Das Buch meiner Mutter by Albert Cohen

Das Buch meiner Mutter by Albert Cohen

Autor:Albert Cohen [Cohen, Albert]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783312006441
Herausgeber: Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag München 2014
veröffentlicht: 2014-08-19T22:00:00+00:00


Kapitel XIII

Ihre Tränen auf dem Bahnhof in Genf, am Abend, wenn sie nach Marseille zurückfuhr und die Lokomotive die hysterischen Schreie einer verzweifelten Irren ausstieß, dazu Geklirr von Eisen und Dampf, der unter den Wagenachsen hervorquoll. Von der Waggontür aus betrachtete sie mich voll inniger Zärtlichkeit, verrückt und unglücklich, und kümmerte sich nicht mehr darum, ob sie elegant und gut gekleidet war. Sie wusste, dass sie mich auf ein Jahr verließ und dass mein Leben von ihrem bescheidenen Dasein durch einen Abgrund getrennt war, den ich jetzt hasse. Oh, der Segen, den sie mir unter Tränen von der Tür aus gab, sie, die mich mit den Blicken verschlang, sie, die plötzlich so alt, so mitgenommen und zerrauft aussah, den Hut ganz schief auf dem Kopf, der Segen, den sie mir gab, ausgesetzt, fassungslos, elend, geschlagen, ein Paria, so abhängig und unansehnlich, ein bisschen verrückt, ein bisschen blöde vor Unglück. Vorbei das herrliche Beisammensein, das armselige Fest ihres Lebens. Wie sie vor Unglück in Panik geriet an der Tür des Zugs, der sich in Bewegung setzte, der sie wegtragen würde zu ihrem Leben der Einsamkeit, der sie, ohnmächtig und verurteilt, wegtrug von ihrem Sohn, während sie mich segnete und weinte und Danksagungen stammelte. Seltsam, dass ich ihre Tränen nicht ernst genug nahm. Seltsam, dass ich mir jetzt erst klar werde, dass meine Mutter ein menschliches Wesen war, ein von mir verschiedenes menschliches Wesen mit echten Leiden. Vielleicht ging ich am gleichen Abend zu meiner Geliebten.

Ein Sohn hat mir gesagt – und er hat jetzt das Wort –, ein Sohn hat mir mit Ringen unter den Augen gesagt, auch ich habe meine Mutter verloren. Auch ich habe fern von ihr gelebt, und sie kam jedes Jahr einige Wochen zu mir zu Besuch, die auch für sie das armselige Fest ihres Lebens waren. Auch ich, sagte dieser Sohn, begab mich am Abend ihrer Abreise, statt die ganze Nacht um meine Unvergleichliche zu weinen, traurig, aber rasch getröstet, zu einer Vergleichlichen, einer jener auserlesenen Teufelinnen meines Lebens, mit Namen Diana, Diana, Ordensschwester der Liebe. Ich begab mich zu ihr und dachte kaum mehr an meine Mutter, die stumpf vor Schmerz mit wackelndem Kopf im Zug saß, der sie von mir wegtrug und in dem sie nur an ihren Sohn dachte, diesen Sohn, der im gleichen Augenblick, ohne mehr an seine Mutter zu denken, im Taxi vor Liebe lachte, im Taxi, das ihn Diana näherbrachte – welch sündhaftes Vergnügen, diesen Namen auszusprechen. Und ich nützte es aus, dass der Motor einen Riesenlärm machte, und sang aus vollem Hals Liebeslieder, ohne die Kommentare des Chauffeurs zu fürchten, dem ich gleich ein großartiges Trinkgeld geben würde, so glücklich war ich darüber, Diana endlich wiederzusehen.

Während meine Mutter in ihrem Zug weinte und sich schneuzte, sagte mir dieser Sohn, der mir missfällt, betrachtete ich mit Vergnügen mein junges Gesicht im Spiegel des Taxis, diese Lippen, die Diana in wenigen Minuten ganz schrecklich küssen würde, und ich sang, vor Ungeduld zitternd, Gesänge von widerlich dummer Leidenschaftlichkeit, vor allem den geliebten



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